ELVIRA VIGNA: NADA A DIZER (Brasil, Ed. Companhia das Letras, 2010, 168p.; Portugal, Quetzal, 2013, 176p.; Itália, Gran Vía, 2016, 168p.) – reviews.
– Literary Fiction Award from Academia Brasileira de Letras
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Excerpt (trans. Magdalena Nowinska):
Der 16. November
Am 16. November machte Paulo die Augen auf und schaute zum Lichtspalt, der sich zwischen den beiden Vorhängen öffnete – dem Schwereren, aus grauem Plastik, und dem darüber hängenden Leichteren, aus weißem, durchsichtigen Stoff. Er blieb so einige Augenblicke lang liegen und setzte dann Vorbereitungen in Gang, die dazu führen sollten, dass auch der Rest seines Körpers seinen Augen folgen und das dunkle und kleine Zimmer verlassen würde, welches sich bereits mit Geräuschen zu füllen begann: im Zimmer nebenan schaltete jemand gerade den Fernseher ein; im Korridor ratterte bedrohlich der Wagen des Zimmermädchens; vom Lift kam ein Pling. Paulo begann mit einer theoretischen Grunduntersuchung seines Magens und Mundes. Nein, kein Überbleibsel der Misere des gestrigen Abends, an dem er sich, nach einem Riesensandwich in der Eckkneipe nebenan, beinahe die Seele aus dem Leib gekotzt hätte. Als er dies zu sich selbst sagte, hätte es ihm eigentlich komisch aufstoßen sollen: die Seele? Das wäre doch nur allzu passend gewesen, haha, am Vorabend die Seele los zu werden. Doch derartige Reflexionen waren nicht eben Paulos Stärke. Normalerweise. Und jene Stunde wäre erst recht kein guter Zeitpunkt dafür gewesen. Nach dem Magen kam das Knie dran, das jedoch nicht nur theoretisch untersucht werden konnte. Paulo streckte das Bein aus, beugte und streckte es wieder. Nicht allzu schlimm. Der Schmerz im Rücken hingegen, noch vom Bandscheibenvorfall her, war so wie immer beim Aufwachen: nämlich fühlbar. Im Laufe des Tages würde er sich mit den Bewegungen des Körpers abschwächen. Mit einem jetzt schon einsetzendem Gefühl der Müdigkeit – die nicht zuletzt von der Tatsache stammte, dass er eben Knie, Magen und Rücken besaß – blieb Paulo noch ein wenig liegen, betrachtete die Dunkelheit und hörte dem Ticken des großen, hässlichen Weckers am Nachttisch zu. Das Tick und das Tack, und das Tick und das Tack gaben in all ihrer Vorhersehbarkeit seiner Herzrhythmusstörung Zeit, sich zu stabilisieren. Diese war das einzige Symptom seiner Herzkrankheit, für die er täglich tonnenweise Medizin schlucken musste.
Der Tag hatte begonnen.
Als er später die Copacabana entlang ging, waren sein Körper und seine mehr als sechzig Jahre vergessen. Unbekannte Städte allein und zu Fuß zu erkunden bereitete ihm immer ein großes Vergnügen. Ein noch größeres Vergnügen bereitete es ihm, mit dem Auto oder dem Bus Straßen zu unbekannten Orten zu folgen. Dabei war Rio de Janeiro bis vor Kurzem noch kein unbekannter Ort gewesen. Es ist aber dazu geworden. Vor nicht mal einem Monat war er von hier mit seiner ganzen Familie weggezogen. Und auch wenn die Stadt sich nicht verändert haben mochte, so war er bereits ein Anderer. Zwischen seinen Fußsohlen und dem Bürgersteig spürte er eine angenehme Distanz, wie einer, der nicht mehr dazu gehört.
Da er noch viel Zeit hatte, näherte er sich langsam der Wohnung eines seiner Kollegen von einem seiner unzähligen Jobs. Oder vielmehr: seiner Berufe. Nicht, dass er es so gewollt hätte. In keinem Moment seiner Kindheit hatte er zu sich selbst gesagt: Ich werde das sein, was sich gerade ergibt, werde das tun, war mir gerade in den Kopf kommt. Es hatte sich einfach so ergeben. Immer wieder hat das Leben ihn von einer Schiene auf die andere umgeleitet. Gerade jetzt führte ihn eine solche Schiene, die Avenida Atlântica, zur Wohnung eines Mannes, der Pedro Correa hieß, besser bekannt als Pece; er versorgte sich bei ihm mit Marihuana. Es gab noch mehr Namen zwischen dem Pedro und dem Correa, und auch noch nach dem Correa. Doch das Kürzel Pece hatte in den mit ergonomischen Möbeln gefüllten und mit schweren Teppichen ausgelegten Räumen der PR-Agentur, für die er gearbeitet hatte, witziger geklungen. Also war es bei Pece geblieben. Pece war nun ein kleiner, dicker Mann, der in einer großen Wohnung mit Meeresblick wohnte, zusammen mit seiner Frau und gelegentlich auch mit einem seiner bereits erwachsenen und selbständigen Kinder, die aus welchen Gründen auch immer manchmal beim Vater übernachteten. Pece verkörperte gewissermaßen, wenn auch nicht ganz, Vorbilder der Jugend von Paulo, die allerdings viel faszinierender und romantischer gewesen waren, und auch den Marihuana fröhlicher und gemeinschaftlicher geteilt hatten. Und hätte Paulo eine Neigung zu Reflexionen gehabt, hätte sich auch hier die Möglichkeit dazu ergeben. Denn in der Person von Pece hatte sich die PC, die Kommunistische Partei Brasiliens, für die sich Paulo in seiner Jugend mit Leib und Seele eingesetzt hatte, in einen reichen Rentner verwandelt, der Marihuana zwar weniger genoss als er behauptete; der Stoff bot ihm aber die einzige Möglichkeit, das Gefühl der Nähe zu spüren, wenn er sich nämlich mit dem einen oder anderen seiner Sprösslinge ins Wohnzimmer setzte und ihm einen Joint anbot.
Zwischen Paulo und seinem ehemaligen Arbeitskollegen gab es nie viel zu reden. Sie hatten zusammen gearbeitet – das ergibt nicht gerade viel Gesprächsstoff, außer Hast du Diesen mal gesehen? Von Jenem gehört? Von wem? Von Jenem, aus dieser und jener Abteilung. Ah. Ich weiß nicht, ob du schon gehört hast, er hat nämlich. Man kann es wenden und drehen, sehr viel mehr kommt dabei nicht heraus. Und dann erhebt sich Pece endlich vom Sofa und verkündet das erwartete Ich hol’s dann mal. Bald darauf kommt er mit einem kleinen Paket und einer bereits gerollten Zigarette in der Hand zurück, an der beide ein wenig ziehen und sich dabei damit abfinden, dass nichts außer geografischer und zufälliger Nähe sie verbindet. Beide bleiben eine Zeit lang an die Brüstung des gigantischen Fensters angelehnt und betrachten, schau mal, den unveränderlichen Horizont, der sich nicht verändert hatte seit sie beide, noch jung, unten auf der Straße ganz andere Arten von Leben führten. Angesichts dieses unveränderlichen Horizonts werden sie ihren Joint rauchen in der Hoffnung, dass auch er unveränderlich bliebe. Und dies hilft ihnen sich vorzustellen, viel mehr noch als der Horizont, dass noch immer, genauso wie früher, ein ganzes Leben vor ihnen liegt.
Paulo verlagerte das Gewicht des Körpers von einem Bein aufs andere. Um den Marihuana von Pece zu bekommen, musste er an der Lebenswelt von Pece teilhaben – dem Fenster, den schweren Möbeln, der alten und teuren Wohnung – und Paulo war nicht der richtige Typ dafür.
(Vieles von dem, was hier noch gesagt werden wird, wird sich darauf beziehen, was für ein Typ Paulo eigentlich ist.)
Nachdem er eine Weile also von einem Fuß auf den anderen getreten hatte, ohne sich von der Stelle zu rühren, sprach Paulo endlich aus, was er zu sagen hatte, den Triumphsatz, die Apotheose, den zweiten Grund seines Besuches:
“Eine Frau geht mir neulich auf die Nerven, will unbedingt mit mir ins Bett.”
In der multinationalen Firma, deren Angestellte beide einige Jahre lang zusammen waren, war Pece in jeder Hinsicht immer viel erfolgreicher als Paulo gewesen. Es kam dort immer darauf an, ein guter Verkäufer zu sein. Marketing halt. Und mit seinem Ring, seinen glatten und zutiefst mainstreammäßigen Unterhaltungen hatte Pece, hatten eigentlich alle Kollegen von Paulo, beim Gespräch mit Kunden, beim Lachen und beim Schulterklopfen immer wesentlich mehr Talent bewiesen als Paulo.
Haha, lachte Pece. Und klopfte Paulo auf die Schultern.
Fügte dann hinzu, etwas ernster:
“Ja, wenn sie allzu zudringlich werden, gehen sie einem wirklich auf die Nerven.”
Der Joint war zu Ende und Paulo fühlte sich besser, seine Ellenbogen hatten sich in einer Nische der von der Meeresluft ganz zerfressenen Fensterbank eingenistet. Schon immer hatte er sagen wollen, was er gerade gesagt hatte – und nun drehte er den Satz genüsslich auf der Zunge herum. Bei den gemeinsamen Mittagessen, zu denen sich die Gruppe jeden Donnerstag im Restaurant unten traf, erwähnte immer wieder der eine oder andere Kollege eine Affäre. Es gab kaum eine Woche, in der nicht auf irgendeine neue Affäre angespielt wurde, was mit kurzen Sätzen kommentiert wurde, ohne Nachfragen, und ohne konkrete Details, die dann aber durch Gelächter, Schnalzlaute und das Hochziehen von Augenbrauen ersetzt wurden. Nur Paulo hatte nie eine Geliebte gehabt. Prostituierte, das kam schon vor, damals, als er noch mit eben dieser Gruppe in andere Städte reiste, Brasília, Recife, und vor allem São Paulo. São Paulo, wo er gerade hin gezogen war. Und die Tatsache, dass er jetzt in São Paulo wohnte, verschloss selbst vor seiner Phantasie – zumal Prostituierte in der Praxis keine reelle Präsenz mehr in seinem Leben darstellten – das reichhaltige Angebot an Clubs und Huren der Rua Augusta, nur einen Block von seinem neuen Zuhause entfernt. Es war Paulo nämlich wichtig, dass seine kleinen Eskapaden, wie er das gelegentliche Vögeln zu nennen pflegte, nie in der Stadt stattfanden, in der er gerade wohnte. Auf diese Weise fühlte er sich sicherer. So war es auch einfacher, die Dinge zu trennen, und sie auch vor sich selbst zu verbergen.
Zum ersten Mal würde er sich also eine Geliebte nehmen.